Performance ist eine zeitbasierte Kunstform. Archivierung
ist eine zeitorientierte und zeitbezogene Wissenschaft und Dienstleistung.
Also im Rahmen des Forschungsprojekts archiv performativ denke ich über die Zeit nach.
Die Zeit ist eine Dimension, die uns bestimmt, wir haften an ihr. Daran können wir nichts ändern. Wir können die Zeit nicht recht verstehen – dafür fehlt uns ein angemessener Betrachtungsabstand, wir bemühen uns jedoch.
Wir gehen mit der Zeit mit, indem wir in überschaubaren
Situationen ihren Regeln folgen – z.B. wenn wir uns verabreden und
pünktlich erscheinen, oder wir werden von ihr gezerrt in Unüberschaubares,
Schönes wie Unerwünschtes – wie in allerlei Akutem: bei Überraschungen,
in Notfällen, Unfällen, Naturereignissen, Naturkatastrophen. Und beim Sterben,
dem extremsten Akutfall. Wir haben keine andere Wahl.
Das Bewirken der Zeit in unserem Leben und Tun hat einen
absoluten, totalitären Charakter.
Das Zeitempfinden ist dagegen eine recht flexible Sache. Das können wir spüren, darüber können wir reflektieren, es ist ja unseres. Es ist nicht von außen gegeben. Es ist wohl auch absolut, aber dennoch greifbar.
Ein Moment, die meistbenutzte subjektive Zeiteinheit zum Beispiel, kann eine Länge von Sekunden oder Tagen haben – je nach zeitlichem Abstand der Betrachtung. Er kann schwer, hell, schön, schlimm, ach oder oh sein. Er muss lediglich abgeschlossen sein.
Ja, unser Zeitempfinden ist flexibel. Es kann vorwärts oder
rückwärts gleiten oder gehen, fliegen oder schauen. Es kann sich ausdehnen und
sich zuspitzen. Aufmerksam sein oder diffus.
Es ist direkt verknüpft mit unserem Gedächtnis und unseren
Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und Gefühlslagen und es ist stark von der
jeweiligen Atmosphäre beeinflussbar, in der wir uns befinden und bewegen.
Gut. Bisher habe ich mich bemüht, in meinen Schilderungen nüchtern und objektiv zu bleiben, Definitionen zu formulieren, die Materie zu umkreisen.
Ab jetzt werde ich anmaßend und subjektiv.
Ich werde von meinem Zeitempfinden als Performerin und
Performance-Rezipientin berichten und werde davon ausgehen, dass dieses, mein
Empfinden dem euren und dem der Anderen nicht fern ist.
Ich werde gar das Zeitempfinden als Zeitverhalten
betrachten und definieren. Ich werde den Spieß umdrehen.
Nein, nicht ich empfinde, die Zeit besucht
mich und schenkt mir reichlich Subjektives.
Ich werde von Zeitmodi, Zeitarten, Zeitwesen und Zeiteigenschaften sprechen, als würde ich über die mir übergeordnete Dimension Zeit Bescheid wissen. Ich werde die Zeit zerteilen und diese Teile sortieren, sie in Formen einpassen oder ihnen Gesichter vergeben, sie personifizieren und – sollte es mir gelingen – ihnen die passenden Namen geben.
Es tut mir Leid, anders als subjektiv geht es nicht.
Ja, ich habe Skrupel dabei, aber lasst uns der Sache nah
bleiben.
Ich verfasste diesen Vortrag in für mich ungewöhnlich kurzer Zeit. So werden einige wichtige Aspekte und Fragestellungen ausbleiben als auch der Rhythmus des Vortrags wird eher ein Produkt des Zufalls und der Eile sein.
Nehmen wir an, es gibt den Anlass und den ungefähren Termin.
Beispiel: Pascale Grau ruft mich an und fragt, ob ich beim archiv
performativ dann und dann mitmachen möchte
und kann. Und ich sage ja.
Das ist eine zukunftsorientierte Zeit. Sie hat einen festen Stand. Der Anlass steht fest, der ungefähre Termin auch.
[Zeichnung 1a] Diese Zeit hat mindestens zwei Füße, die fest auf dem Boden stehen. Sie ist meistens groß gewachsen, viel größer als ich.
[Zeichnung 1b] Um ihren Körper ranken sich Tendenzen, Entwürfe, Unklarheiten, Ängste, Zögern, Vorfreude und alle wachsen schnell. Sattes Grün, sehr vital. Wegen der vielen Blätter kann ich das Gesicht dieser Zeit nicht sehen.
Diese Zeit ist nicht von langer Dauer, aber sie ist mächtig. Nachdem sie gegangen ist, könnte es sein, dass sie wieder kommt.
Es ist schwer ihr einen Namen zu geben. Vielleicht, weil sie
so groß und stark ist, heißt sie Gudrun.
[Zeichnung entfernen]
Diese Zeit ist sehr hell, kommt wie ein kalter Blitz und
füllt mich mit absoluter Gegenwart. Ich kann sie nicht erfassen, so sehr
beeindruckt und überwältigt mich ihr Besuch.
Sie zeigt sich ruckartig im berühmten Moment der
Initialzündung. Dann geht sie für immer.
Ich kann nicht sagen, wie sie aussieht. Ich kann nur sagen, was ihr Besuch mit mir macht.
[Zeichnung 2a] Eine scharfe Ebene schneidet durch meinen Kopf, so dass meine Schädeldecke über meinem restlichen Kopf schwebt.
Dabei entweicht etwas weiches Licht. [Zeichnung 2b] Eine helle, kalte Flüssigkeit rieselt herunter, dringt durch meine Haut in meinen Körper hinein und zirkuliert darin wie ein Schwarm fröhlicher, kleiner Kugeln.
Die Idee kann auf einmal kommen oder in mehreren Portionen.
Jede Portion wirkt in ihrem apokalyptischen Charakter einzigartig und einmalig.
Die Zeit der Idee kann also eine Ansammlung von hellen
Entitäten sein.
[Zeichnung entfernen]
Diese Zeit ist zäh, stockend, schwer und zugleich sprunghaft. Anstrengend, aber auch mit erhellenden Höhepunkten.
Sie heißt Heike [Zeichnung 3a] und ist zwanghaft und übergewichtig – sie isst viel aus Lust und aus Frust-Gründen. Ihre Laune ist sehr wechselhaft. Manchmal ist sie generös freundlich, warm und zärtlich und sie unternimmt mit mir Schönes, und manchmal zerdrückt sie mich zornig in ihrer Hand.
Sie ist tapfer, tüchtig und robust – sie nimmt sich schließlich die Idee zur Brust. Sie kann so rasch zwischen Vergangenheit (Idee, Erfahrung) und Zukunft (Plan, Umsetzung) wechseln, dass ich ihr oft nicht folgen kann. Spätestens dann muss ich anfangen, mir Notizen zu machen.
Beim Zeitspringen ist sie trotz ihres Übergewichts sehr grazil, fast gazellenhaft. Ich kann mir vorstellen, dass sie gut tanzen kann. [Zeichnung 3b]
Heike bleibt lange bei mir.
Ihr Wesen beruhigt und überfordert mich gleichermaßen und
zwar auf die Art und Weise, wie es meine Tante Stella auf dem Dorf immer tut.
Meine Tante bestellt den Haushalt und den Garten so effizient und für mich so
verschlüsselt, dass ich immer sehr hoffe, nicht in ihre Arbeitsplanung
einbezogen zu werden.
Trotz aller Ambivalenz mag ich meine Tante Stella sehr. So
will ich auch Heikes Anwesenheit niemals missen.
[Zeichnung entfernen]
Diese Zeit ist hoch spannend und komplex. So dass ich sie eher als eine Gruppe von Objekten und Wesen empfinde.
Stellen wir uns vor, ich bin bereit für die Performance. [Zeichnung 4a] Voll gepumpt mit körpereigenem Adrenalin, befinde ich mich total in der Gegenwart.
Dennoch an meiner rechten Schulter haftend [Zeichnung 4b] und durch mehrere Fäden mit meinem Rücken verbunden, sitzt die für die Sache relevante Vergangenheit wie ein klobiger Gegenstand von großer Wichtigkeit und großem Gewicht. Durch die Fäden werde ich mit den erforderlichen Impulsen versorgt.
Meine Interaktion mit der Gegenwart ist wie die des Surfers auf den Wellen oder wie beim Rodeo: [Zeichnungen 4c] Vor mir galoppieren wild die Augenblicke. Ich greife eine Mähne, springe samt Vergangenheit auf den Rücken eines Augenblicks und reite hoch erregt mit dem ganzen Pulk mit. Yee-ha!
Wenn mir Surfen oder Galoppieren gut gelingt, geht mein
Performance-Plan auf.
Die Atmosphäre entsteht, ich kommuniziere mit dem Publikum,
es surft und reitet mit.
Wenn nicht, gibt es böse Stürze, entsetzliche Panik, die
nicht gezeigt werden darf, und ein gelangweiltes Publikum.
Eine sehr kritische Sache.
Das Konvolut der Performance-Zeit, obwohl vollständig in der Gegenwart situiert, dehnt sich nicht nur Dank des mitgebrachten Klotzes in der Vergangenheit, sondern expandiert sich auch in der unmittelbaren Zukunft. Dieses recht elastische Zeit-Konvolut nennen wir spontan Annette. [Zeichnung 4d].
Zur Annettes gegenwärtigen Zukunft:
Wenn ich auf der Bühne stehe und agiere, spüre ich die
nächsten Sekunden, ich kann sie wahrlich sehen und auf sie zusteuern.
Und je besser meine Zukunftssicht ist, desto klarer kann ich sehen, dass vor mir oft mehrere Zukunftsoptionen stehen, und so wähle ich während meines rasanten Galopps eine davon und ich springe aufs nächste Pferd drauf.
So lässt sich z. B. die Improvisation als der Weg zu einem bereits erfassten Zukunftsfragment erklären. Weil – was wäre dieses Gespür für den nächsten Schritt sonst? Woher käme es, wenn nicht von der Zukunft selbst? [Zeichnung 4e].
Diese Seite von Annette, die voraussehende, ist wie eine
weiche Schicht von flüssigem, blauem Licht, welche zart auf meiner linken Leibesseite
liegt.
[Zeichnung entfernen]
Unmittelbar nach der Performance verfalle ich in einer Art
Starre und fühle ich mich sehr einsam.
Soeben habe ich mich von Gudrun, der Idee, Heike und Annette
durchs Abschließen der Arbeit getrennt. Und so was geschieht nicht ohne
Schmerz.
Ich habe mich von meiner Arbeit gelöst. Ab jetzt bekommt sie ihr eigenes Leben. Ich kann sie nicht mehr ändern – jedenfalls jetzt nicht – und sie ist allen möglichen Interpretationen ausgesetzt. Schwierig.
Diese Zeit ist wie sehr zähflüssiger, kristallisierter,
alter Honig. Darin befinde ich mich dann, kann mich nur sehr langsam bewegen,
die Stimmen der anderen klingen weit entfernt, gedämpft und unklar –
nuscheln sie alle? Auch mit der Atmung funktioniert’s nicht so gut.
Diese Zeit hat keinen Namen – wie könnte sie auch?
Nachdem die Atmung sich wieder normalisiert hat, kommt die
nächste Zeit. Obwohl noch wirr vom abebbenden Adrenalin, spüre ich einen
unbezähmbaren Drang zu kommunizieren. Und diesem Drang gehe ich bei günstigen
Umständen unbedingt nach. Ich suche das Gespräch und den geeigneten Alkohol
– in zivilen Mengen.
Ich brauche sofort Rückmeldung – aber bitte nicht zu
viel und nicht zu präzise. Ich brauche sie als Vergewisserung, dass die
Performance tatsächlich stattfand. Ich brauche im Moment keine genaue Kritik
oder Interpretation. Nur etwas Gewissheit über das Ereignis.
Diese Zeit, Nele, ist jung, ungeduldig, charmant spritzig, etwas flatterhaft und ziemlich unkonzentriert. Nicht die Worte des Gesprächpartners will sie hören, sondern seine Stimme. Jedes Mal, wenn ich dem Mund aufmache um etwas zu sagen, kommt Nele, verdrängt mich und stiehlt mir das Gespräch.
Zum Glück kann ich mich bald von Nele lösen und bin in der Lage einigermaßen vernünftig zu kommunizieren.
Die nächste Zeit bezeichnet sich von der wachsenden Entfernung vom Ereignis und vom Werk. Sie ist fortdauernd.
Sie ist wie eine alte, nette Nachbarin. Vielleicht heißt sie
Frau Schneider.
Diese Zeit erinnert sich und vergisst ungezwungen und in
wechselndem Rhythmus. Sie spricht gerne von früher, lächelt meistens und ich
habe immer das Gefühl, dass sie Geschichten erfindet. Ich befürchte schleichende
Demenz. Es scheint, dass ihr Zustand sie nicht stört. Nur manchmal ist sie
etwas besorgt darüber. Ich denke, sie wird bald nicht mehr recht wissen, wer
sie ist.
Sie lebt weder so recht in der Vergangenheit – denn
sie vergisst diese munter, noch lebt sie in der Gegenwart und noch weniger in
der Zukunft, sondern eher in einem fließenden Kontinuum von angenehmer
Temperatur und Konsistenz.
So sind mir irgendwann auch meine alten Arbeiten so fern, wie alte Bekannte, deren Namen mir nicht direkt einfallen. Ich vermische Erinnerungen ans Konzept, an die Atmosphäre der Aufführung, an den Entstehungsprozess, an andere Ereignisse und Arbeiten und es formt sich ein vertrautes Diffuses – oft von süßer Sehnsucht begleitet und manchmal von Scham und von "Wie konnte ich nur?".
Die Arbeiten entschwinden mir, wo sind sie jetzt? Bin ich immer noch die Urheberin?
In Situationen wie neulich im archiv performativ,
wo ich auf meine alten Arbeiten treffe und mich mit
ihnen konfrontiere, bekomme ich recht gemischte Gefühle.
Süßlicher Überraschungsgeschmack, Wiedersehensfreude, zarte
Wehmut. Es weht eine leichte, erfrischende Brise, weil das Vergessen mir als
Befreiung und Entlastung erscheint. Dann gleich aber schon wieder nicht. Werde
ich alt? Ist das immer noch meine Arbeit?
Was macht die Zeit mit mir und was wird sie noch aus mir
machen? Darf meine Arbeit mich überdauern?
Und dann, um meine Gefühlslage zu wechseln, lenke ich rasch
meine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit, ich betrachte sie neu, entdecke
dies und jenes darin, vergleiche sie mit meinem momentanen Weltbild, freue mich
auf die guten Neuentdeckungen und schiebe die schlechten gerne auf mein junges
Alter von damals. Dabei bin ich viel mehr Betrachterin der Arbeit als deren
Urheberin.
So ein Durcheinander auch...
Fakt ist allerdings: Ja, ich habe jene Arbeit irgendwann gemacht und ich mache sie jetzt nicht mehr. So is’ es.
In so einem Fall verhalten sich die Zeiten leicht modifiziert.
Annette, die Zeit der Performance, bekommt bei jeder
Aufführung einen anderen Nachnamen: Annette Kies, Annette Kran, Annette Holz,
etc.
Alle Annettes sind und agieren verschieden: Sie haben
verschiedene Surfbretter, haben völlig andere Augenblicke der Zeitherden
erwischt, der wilde Ritt ist ihnen gelungen oder nicht, seine Intensität und
Dauer waren jedes Mal anders, die Stürze waren an verschiedenen Stellen, der
Rhythmus der Performance war jedes Mal anders, er hatte einen guten Takt oder
er brach dann oder dann in sich zusammen.
Die Zeiten vor und nach der wiederholten Performance verhalten sich ähnlich, wie vorhin beschrieben.
Wenn zwischen den verschiedenen Aufführungen lange Zeit vergangen ist und dadurch Frau Schneider mit ihrem freundlichen Plappern anfangen konnte, wird das Ganze komplizierter. Darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen. Sonst komme ich heute nicht mehr zu meinen nächsten Punkten.
Diese Zeit ist freundlich and ähnelt anfangs einer Frühlingswiese. Mein Blick folgt einem hübschen, lebhaften Schmetterling, studiert entspannt seine Bewegung, seine Flügel.
Dann kommt ein Strudel und verschlingt die Wiese. Ich bleibe
dabei trotzdem entspannt und betrachte das Verschwimmen der Farben im Strudel.
An diesem Punkt beginnen die Neugierde und das Interesse.
In den verschwommenen Farben entdecke oder projiziere ich
ein Muster und so bekomme ich eine Vorstellung, worum es gehen wird, wie es
sein könnte.
Aus dem Strudel wird ein Trichter und am Ende fällt die Entscheidung: ich gehe hin oder nicht.
Je nach Präzisionsgrad in der Form und Sprache der Ankündigung, bekomme ich eine sehr genaue oder eine diffuse Vorahnung der Performance. Das kann Absicht der Ankündigung sein oder nicht. Fast nie gehe ich völlig unvoreingenommen zu einer Performance, über die ich was gelesen oder gehört habe. Auch meine momentane Verfassung und Stimmung bestimmen meine Vorahnung erheblich.
Manchmal sind meine Vorstellungen so detailliert, dass ich mich wundere und irritiert bin, wenn es doch anders wird. Manchmal werde ich fast sauer deshalb.
Diese Zeit ist wie ein Schlauch, der ziemlich lang ist – ich weiß nicht, wo er endet – und mit großem Durchmesser – ich könnte ihn nicht umfassen. Er ist flexibel und aus weichem Material.
Durch den Schlauch strömt während der Performance Luft,
immer in einer Richtung, nach oben. Ein Luftschlauch. Die Menge und die
Geschwindigkeit der durchströmenden Luft können variieren, sodass der Schlauch
oft zuckt.
Die Strömung variiert jedoch die meiste Zeit nicht zu sehr,
sodass eine Grundintensität der Performance zu ermitteln wäre. Ab und zu gibt
es allerdings große Unterschiede und der Schlauch wird dann wild.
An ausgewählten Stellen der Schlauchoberfläche sind Fäden
angebracht – schwarz, die an speziellen, aus Leibessubstanz bestehenden
Ösen an den Bäuchen der Betrachter/innen angebunden sind.
Je nach dem wie fest diese Fäden gespannt wurden, kann die
Spannung der Performance mehr oder weniger gut übermittelt werden.
Im Schlauch öffnen sich mehrere Löcher – ca. 30 x 30
cm groß. Durch diese Löcher strömt Luft in Nebenräume, in die Interpretations-
und Projektionsräume.
Diese haben meistens keine weiteren Öffnungen und so kommt
die Luft in sie hinein und dreht erstmal ihre Runden, bevor sie wieder raus
kommt.
Die Interpretationslöcher können entweder von der Performerin oder dem Performer selbst geöffnet worden sein, oder von mir, der Betrachterin, oder von der vorherrschenden Atmosphäre.
Übrigens, über die Entstehungsfaktoren, die Gestaltungsmacht und die Dynamik der Atmosphäre während der Performance werde ich heute leider nicht explizit reden können. Dafür ist die Zeit zu kurz und das Thema ein anderes.
Zurück zum Schlauch: Die Positionen der Interpretationslöcher bleiben nicht zwangsläufig konstant.
Knicke. Der Schlauch hat Knicke. [Zeichnung 5a]
Wenn eigene Gefühle (wie Erkenntnisfreude, affektives
Betroffensein, Fremdschämen, etc.) und Gedanken oder Einflüsse von außen meine
Aufmerksamkeit woandershin lenken oder gar unterbrechen, bekommt der Schlauch
Knicke. Der Luftstrom wird in seinem Weg gehindert.
Der Schlauch kann bei großen Irritationen sogar reißen und
dann versetzt seine Funktion wieder aufnehmen. [Zeichnung 5b]
Das Reißen des Schlauchs kriege ich nie mit, denn meine
Aufmerksamkeit richtet sich auf anderes.
Diese versetzte Fortsetzung, die Knicke und die
Aufmerksamkeitslücken während einer spannenden Performance stressen und
frustrieren mich sehr.
Bei weniger spannenden oder gar langweiligen Performances
sind mir diese Unterbrechungen sehr willkommen. Ich erfreue mich dann an der
Gestalt der versetzten Schläuche, ich suche hier oder da eine Struktur, einen
Rhythmus – ich entspanne mich.
[Zeichnung entfernen]
Wenn eine schlechte Performance mich wütend macht, oder wenn sie mir persönlich peinlich wird, verheddere ich mich manchmal am Schlauch und an seinen Fäden. Das ist dann sehr schlimm.
So in etwa kann ich die Zeit der Performance selbst beschreiben.
Zum Beschreiben dieses Zeitverhaltens kam ich leider nicht.
Ich hatte dafür keine Zeit. Keine Außenzeit.
Da die wie eine Klosterbibliothek wirkenden Räume des archiv performativ mir die Inspiration zu diesem Thema gaben und mir zu einer intensiven Reflektion über mein eigenes Zeitempfinden verhalfen, wusste ich sofort, dass, wenn ich diese Räume verlassen würde, ich den Text nicht in der gleichen Form weiter hätte schreiben können. Und ich musste vorzeitig gehen.
Die noch zu behandelnden Zeitwesen wären folgende:
Für das Verhalten der Zeiten nach der Performance
sehe ich zwei Unterkategorien:
Das Verhalten der Zeiten nach einer Performance, die ich
gesehen habe, und das Verhalten der Zeiten nach einer Performance, die
ich nicht gesehen habe.
Und somit wären wir zumindest mit der zweiten Unterkategorie bei der Überlieferung, der Dokumentation und Archivierung von Performance. Beim Forschungsschwerpunkt des archiv performativ also.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ewjenia Tsanana, September – Oktober 2011